Unterrichten in einer Zwergschule in den Anden

Einen kleinen Eindruck von der Weite Argentinien bekam ich auf der Fahrt von Buenos Aires zu einem kleinen Dorf in den argentinischen Anden. Ich war zusammen mit meiner Freundin von einem deutschstämmigen Ehepaar eingeladen, die Osterwoche mit ihnen in ihrem Ferienhaus am Fuße der Anden zu verbringen. Es waren mehr als 1000 km, die wir mit dem Auto bewältigen mussten.

Zuerst war die Landschaft völlig flach, wir kamen insgesamt nur an drei kleinen Ortschaften vorbei. Sonst sahen wir nur riesige Weideflächen, auf denen die Rinder das ganze Jahr über weideten, sie kamen kaum mit Menschen in Berührung.  Auf der unendlich geraden, langen Straße begegneten wir ab und zu Lastwagen, die Wein aus dem Weinanbaugebiet Mendoza am Fuß der Anden nach Buenos Aires transportierten. Die Fahrer mussten die wenig abwechslungsreiche rund 1000 km lange Strecke oft mehrmals die Woche bewältigen. Meist fuhren sie ohne Beifahrer, auch wenn es gegen das Gesetz verstieß. So war es kein Wunder, dass viele völlig übermüdet verunglückten, wir sahen auf der Hinfahrt allein sieben umgekippte Weintranporter am Straßenrand liegen.

Nach etwa 750 km wurde es hügeliger, und allmählich tauchten die ersten größeren Berge auf. Als wir abbogen, um zu dem Ferienhaus zu gelangen, wurde die Straße immer schmaler und schlechter und hatte viele Kurven, so dass wir bald nur noch Schritt fahren konnten.

Unwegsame Gegend in den argentinischen Anden

Endlich sahen wir das Haus, ein richtiges Traumdomizil. Es lag in etwa 1100 m Höhe in einer wunderschönen Lage oberhalb eines kleinen Flusses und war von einem großen Garten umgeben. Alles wurde das ganze Jahr über von Gerardo gepflegt. Gerardo war deutschstämmig und hatte als Schiffszimmermann auf dem Panzerschiff „Admiral Graf Spee“ gearbeitet. Seit einigen Jahren arbeitet er als Verwalter, dafür erhielt ein kleines Gehalt und bekam einige Vergünstigungen. Er wohnte mit seiner Frau Geneveva und den beiden Kindern in einem Haus, das er selbst gebaut hatte, in etwa 20 Kilometer Entfernung weiter oberhalb des Flusses. Dort hielt er mehrere Pferde, Rinder, Ziegen und Hühner,  bastelte in jeder freien Minute und reparierte fast alles für die Leute, die in der Gegend wohnten. Seine Frau war eine richtige „Schwarze“, so wurden  Nachfahren der indianischen Urbevölkerung etwas geringschätzig genannt.

Kurz bevor unsere Urlaubswoche zu Ende war, fragte Gerardo mich, ob ich mir vorstellen könnte, einige Wochen die Kinder der umliegenden Gehöfte in der kleinen Zwergschule der Gegend zu unterrichten. Die einzige Lehrerin, die es an der Schule gab, war erkrankt, und die Kinder wollten  weiterhin die Schule besuchen. Ich könnte bei ihm und seiner Familie wohnen und würde jeden Schultag mit seinen beiden Kinder dorthin reiten. Er hätte genug Pferde, anders käme man über das unwirtsame, steinige Geländer kaum dorthin.

Nach einiger Überlegung sagte ich zu und ließ meine Freundin mit dem Ehepaar allein nach Buenos Aires zurückkehren, ich wollte später mit dem Bus zurückfahren. In dem Haus von Gerardo und Genoveva teilte ich mir das Zimmer mit der 10jährigen Tochter; der zwölfjährige Sohn, der sonst dort auch schlief, siedelte so lange in das Schlafzimmer der Eltern um.

Gerardos Haus

Gerardo stellte mir das zahmste Pferd zur Verfügung, das nicht wie die anderen sofort davongaloppierte, sobald man aufgestiegen war. Ich hatte vorher noch nie auf einem Pferd gesessen, aber nach einigen Versuchen ging es einigermaßen, und ich wurde mit dem Pferd vertraut. So ritt ich mehr oder weniger schlecht eines Morgens zusammen mit den beiden Kindern zur Schule. Wir durchquerten unwegsames Gelände und mussten durch einen Fluss reiten, weil die Schule auf einem Hügel auf der anderen Seite des Flusses lag.

Die “Schule” bestand aus einem Raum in einem etwas baufälligen Haus. Von dem einzigen Fenster war ein Teil herausgebrochen, der durch Pappe ersetzt worden war. Etwa 20 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren wurden gemeinsam dort unterrichtet. Als ich kam, standen alle auf und begrüßten mich unisono. Danach stürmten sie mit Fragen auf mich ein: woher ich käme – von Europa hatten sie eine ungefähre Vorstellung, aber nicht von Deutschland -, warum ich in Argentinien sei, ob ich jetzt ständig bleiben könnte, sie wollten von mir alles wissen. Danach saßen sie wieder alle diszipliniert auf ihren Plätzen und warteten auf den Unterricht.

Ich war schon vorher darüber informiert worden, dass es keinen festen Lehrplan gab, die Kinder sollten so viel wie möglich in Spanisch, das nicht alle richtig beherrschten, in Mathematik und sonst allem unterrichtet werden, was notwendig war;  die Art und Weise blieb mir überlassen. Ich war erstaunt, dass die Kinder dafür, dass sie in einer solch abgelegenen, schwer zugänglichen Region lebten, sehr viel wussten. Die älteren Schüler kümmerten sich immer um die kleineren und brachten ihnen alles bei, was diese wissen wollten; bei Fragen oder Unklarheiten wandten sie sich an die Lehrerin.

Die Kinder in den Sierras gingen wirklich gerne in die Schule, sie wohnten meist auf Gehöften in völlig abgelegenen Gegenden und waren froh, mit anderen Kindern zusammensein und lernen zu können. Manche brauchten für den Schulweg, den sie auf dem Rücken der Pferde bewältigten, bis zu zwei Stunden. Der Wissensdurst der Kinder war immens, und es machte mir richtig Freude, sie zu unterrichten.

Nicht nur sie lernten Neues, auch ich profitierte enorm von ihrem erstaunlichen Wissen über die Natur ringsum. Ich erfuhr, welche Pflanzen und Kräuter giftig seien und welche man als Heilmittel nehmen konnte. Sie konnten die Tiere jeder Art bestimmen, egal ob Insekt, Vogel oder Reptil. Sie zeigten mir, vor welchen Tieren ich mich in Acht nehmen musste und welche Tiere harmlos waren. Sie konnten bessere Wettervorhersagen machen als die hoch entwickelten Wetterdienste von Industriestaaten, erklärten mir, wann das Wetter plötzlich umschlagen konnte und wann man mit einer stabilen Wetterlage rechnen konnte. Besonders die Mädchen hatten Vertrauen zu mir und schlossen sich mir an, wenn immer es ging. Sie erzählten mir von ihren Familien, ihren Geschwistern, ihren Freuden und ihren Sorgen. Sie fragten mich Dinge, die sie wahrscheinlich nicht mit ihren Müttern besprechen konnten, und ich freute mich über dieses Vertrauen, so konnte ich den Mädchen auch außerhalb des Unterrichts ein wenig mitgeben.

Wenn kein Unterricht stattfand, kamen einige der Kinder manchmal zu Gerardos Haus, um dort gemeinsam die Freizeit zu verbringen. Gerardo hatte aus einer Vertiefung im Flussbett alle Steine herausgeholt und eine Art Sprungbrett befestigt, so dass wir in dem fast zwei Meter tiefen Wasser wunderbar baden konnten. Das Wasser war trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit sehr warm, weil es durch die Sonne schnell aufgeheizt war. Einmal wurde ich durch eine etwa einen Meter lange grünliche Schlange erschreckt, die mich im Wasser umkreiste. In panischem Schrecken sprang ich aus dem Wasser, weil es eine giftige Schlange sein konnte. Diese  waren in der Gegend bei warmen Wetter häufig zu sehen, und ich war vor ihnen ich gewarnt worden. Gerardo, den wir zu Hilfe riefen, räucherte das Tier aus, es hatte sich inzwischen in einer Felsspalte verkrochen. Er erklärte uns, dass die Schlange zwar nicht giftig, aber bei den Farmern der Umgebung sehr unbeliebt sei, weil sie ganze Hühner verschlingen konnte. Am nächsten Tag ging ich trotzdem wieder schwimmen. Eines Tages entdeckte Gerardo im Garten eine schwarz-rote Korallenschlange, die zwar nur etwa 60 cm lang war, aber trotzdem als eine der gefährlichsten Giftschlangen der Gegend galt. Nach zwei Stunden geduldigen Versuchens gelang es Gerardo, die Schlange in eine große Flasche zu locken; er wollte sie lebend dem Zoologischen Garten von Córdoba schenken.

Auf dem Grundstück wuchsen viele Blumen, und tagsüber schwirrte es von farbenprächtigen Schmetterlingen und und vielen Vögeln, wie die grünlich schimmernden Kolibris, die sich mit ihren langen Schnäbeln aus den Blüten ihre Nahrung holten.

Einige Male sah ich auch einen kleinen, weißen Vogel, eine “Viuda blanca” (weiße Witwe). Der Vogel wird so genannt, weil man ihn nie in Gesellschaft von anderen Vögeln sieht, er fliegt fast immer allein. Man sieht ihn sehr selten.

Gerardo machte alles, um etwas zusätzliches Geld zu verdienen, Reparaturarbeiten an Häusern, Maschinen auch der anderen Bergbewohner, und er widmete sich der Aufzucht und dem Verkauf von seinen Pferden und Rindern. Er erschoss Viscachos (Pampahasen), um das Fell zu verkaufen. Die Köpfe der Tiere trennte er ab und warf sie in einen Ameisenhaufen, wo er sie nach einigen Tagen restlos abgefressen wieder herausholte, um aus ihnen Federhalterständer und andere Utensilien anzufertigen. Dasselbe machte er mit anderen größeren Tieren.  Ich musste erst ein paar Mal schlucken, um das mit ansehen zu können, ich verstand aber auch, dass es eine andere Lebensweise war, damit die Leute überleben konnten.

Einmal nahm Gerardo uns nachts mit, um auf Shunks-Jagd zu gehen. Die Felle der Stinktiere, Shunks, waren recht wertvoll, die Tiere durften allerdings nicht geschossen werden, da dann das Fell durchlöchert und damit wertlos war. Es war nicht leicht, solch ein Tier zu erledigen, denn Shunks machten sofort Gebrauch von ihrer unter dem Schwanz sitzenden Drüse und verpesteten die Luft derartig, dass man schnell die Flucht ergriff. Gerardo hatte ein eigenes System entwickelt, um an das kostbare, unbeschädigte Fell zu kommen: er hatte seinen Hund darauf dressiert, das Stinktier am Nacken zu packen und solange festzuhalten, bis er hinzukamm und es mit Hilfe eines Stockes oder mit Steinen töten konnte.

Gerardo liebte es, mir alte Fotos und Urkunden aus seiner Glanzzeit auf dem Schiff „Graf Spee“ zu zeigen und mir viel von seinen Erlebnissen zu berichten. Er war sehr stolz, auf diesem besonderen Schiff gearbeitet zu haben, und ich hörte gerne zu, denn das war eine ganz andere Welt für mich, die sich vor mir auftat.

Für Genoveva, Gerardos Frau, war es eine große Ehre, einen Weißen als Mann zu haben, dazu noch eine – ehemaligen – Europäer. Sie war mit fast allen in der näheren und weiteren Umgebung irgendwie verwandt, und so wurde auch ich mit einbezogen und überall mitgenommen. Man wollte mich  immer mit allem Möglichen verwöhnen, zum einen, weil die Leute extrem gastfreundlich waren, und zum anderen war ich als weiße Ausländerin aus einem fernen Land für sie etwas Besonders. So lernte ich die Lebensweise der Einwohner der Bergregion und ihre Sitten und Gebräuche kennen, lauschte ihren Erzählungen, und es kam mir vor, als ob ich mich in einer anderen, zwar kargen, aber friedlichen Welt befände. Immer wurde dabei der Mate-Becher herumgereicht. Er war in einer ausgehöhlten Kürbiskalabasse, die mit getrockneten Mate-Blättern zur Hälfte gefüllt und mit heißem Wasser aufgegossen wurde. Der Tee wurde durch eine „Bombilla“ getrunken, wobei alle dieselbe Bombilla benutzten. Diese durfte vorher nicht abgewischt werden, das wäre unhöflich gewesen.

Kalabassen mit Bombillas für Mate-Tee

Fast immer konnten wir die entfernteren Häuser nur auf dem Rücken der Pferde erreichen. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt zu reiten.  Hector, “mein” Pferd, war sehr friedlich und hatte mich wohl inzwischen auch in sein großes Pferdeherz geschlossen, denn er kam immer angetrabt, wenn er mich sah. Ich hatte beim ersten Mal eine Tüte mit Würfelzucker mitgenommen, wie man es mir früher empfohlen hatte. Diese wurde verschmäht, die Pferde hier oben liebten Salz, deshalb brachte ich immer etwas Salz mit. Hector kannte jeden Stein des unwirtsamen Weges, ich braucht ihn nicht zu lenken.

Die Leute in den Bergen waren zwar sehr arm, aber außerordentlich gastfreundlich und teilten mit Fremden das letzte Stück Brot. Gastfreundschaft war in Argentinien überhaupt selbstverständlich. Wenn ich eingeladen wurde, und das geschah sehr oft, konnte ich sicher sein, dass es wirklich aus ehrlichem Herzen und nicht nur aus Höflichkeit geschah. Um gegen die kälter werdenden Nächte gewappnet zu sein, schenkten sie mir einen Poncho und den typischen Hut, der von den meisten getragen wurde.

Poncho, typischer Hut der Gegend und Mate-Kalabasse

Als es für mich Zeit war, wieder nach Buenos Aires zurückzukehren, war ich sehr bedrückt, die Kinder und ihre Familien nicht minder. So stieg ich nach vier Wochen voller Eindrücke und vieler positiver Erlebnisse schweren Herzens in den Bus, der mich zurück nach Buenos Aires brachte. Die Zeit mit Kinder in den argentinischen Anden und mit den Menschen, die ich dort kennenlernen durfte, möchte ich niemals missen. Sie gehört zu meinen wertvollsten Erinnerungen.

7 Kommentare zu „Unterrichten in einer Zwergschule in den Anden

  1. Ich habe die Anden in Chile kennengelernt, als ich für die Lufthansa arbeitete. Wir waren für einige Tage oben in den chilenischen Anden, in einer Ski-Station, und sind Ski gelaufen. Es war ein grossartiges Erlebnis. An den Namen des Orts kann ich mich leider nicht mehr erinnern.

    Die Anden sind ein wunderbares Gebirge. Gefährlich und schön, beides gleichzeitig, je nachdem wie man sie erlebt.

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